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„Wir geben niemanden auf“

15. November 2021

Anna Funk und Michaela Ludwig arbeiten in unterschiedlichen Jobcentern: Funk leitet ein Sachgebiet in der Optionskommune Stuttgart. Ludwig ist Teamleiterin in der gemeinsamen Einrichtung Northeim.

Michaela Ludwig ist Teamleiterin in der Arbeitsvermittlung des Jobcenters Landkreis Northeim. Im ländlich geprägten südlichen Niedersachsen unterstützt die gemeinsame Einrichtung viele Langzeitarbeitslose und Ungelernte.

Frau Funk, Frau Ludwig, Sie kümmern sich um Menschen, die viel Beratung benötigen. Wie hat bei Ihnen die enge Betreuung trotz der vielen „Corona-Einschränkungen“ funktioniert?

Anna Funk: In meinem Team betreuen wir mit einem Fallschlüssel von 1:40. Wir sind Coaches und persönliche Ansprechpartner*innen (pAp) zugleich. Uns ist es wichtig, Menschen nicht nur direkt in Arbeit zu vermitteln, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Denn nach wissenschaftlichen Untersuchungen erhalten Menschen zu rund 40 Prozent Arbeit über private Netzwerke. Normalerweise gehen wir zum Beispiel in Gruppen in die Philharmonie oder lassen Leistungsberechtigte selbst Stadtführungen für andere Teilnehmende organisieren. Vieles davon war in der Pandemie lange Zeit nicht möglich, wir mussten es schlagartig umstellen. Trotzdem wollten wir die Menschen erreichen. Wir haben viel mit Telefon und E-Mail gearbeitet. Und das klappte meist gut. Die Menschen kannten meine Kolleg*innen, hatten schon vorher Vertrauen. Seit Juni beraten wir zusätzlich per Video. Wobei ich sagen muss: Am besten ist immer noch die Beratung in Präsenz.

Anna Funk ist Sachgebietsleiterin im kommunalen Jobcenter Stuttgart mit Fokus auf Geflüchtete und Schwerbehinderte. Ihre Kolleg*innen kümmern sich sehr individuell um Geflüchtete und Schwerbehinderte.

Michaela Ludwig: Das stimmt. Wir setzen auch stark auf Mitgestaltung, auf Partizipation. Lieber gemeinsam etwas erarbeiten, statt mit Sanktionen zu drohen. Wir hatten immer geöffnet, aber viel weniger Menschen im Haus. Dafür haben wir sehr viel telefonische Beratung angeboten. Das funktionierte für Menschen, mit denen wir schon fortgeschritten waren in der Beratung, sehr unaufgeregt. Aber mit Menschen, die wir neu betreuen, hat beiden Seiten das Gesicht gefehlt. Es dauerte alles ein bisschen länger. Auch deshalb haben wir häufiger Walk & Talk angeboten, also Treffen an der frischen Luft.

Funk: Ich hatte das Gefühl, mit fortschreitender Pandemie wurde es schwieriger, die Menschen telefonisch zu erreichen. Da war bei manchen plötzlich „das Handy kaputt“. Hatten Sie auch solche Schwierigkeiten?

Ludwig: Ein paar Menschen sind abgetaucht. Aber solche Fälle gab es vor Corona auch schon. Was ich interessant finde: Einige Kund*innen konnten wir telefonisch besser und schneller erreichen als persönlich. Einigen Leuten fällt es leichter, so mit uns ins Gespräch zu kommen. Manche haben auch per E-Mail Kontakt gesucht. Da konnten wir leider aus datenschutzrechtlichen Gründen oft nicht antworten, auch wenn die Menschen von sich aus schon viele Daten preisgegeben haben.

Funk: Bei mir waren es vor allem die Menschen mit Gehbehinderung, die sehr froh waren, dass sie uns telefonisch oder digital erreichen konnten.

Sie sprachen über schwierige Erreichbarkeit. Wie lassen sich Menschen wieder für das Jobcenter zurückgewinnen?

Ludwig: Immer dranbleiben, mehrfach anrufen, neue Wege finden. Wir haben Online-Coachings für Frauen angeboten, die durch Kinderbetreuung gar nicht mehr richtig aus ihrem Heimatort herauskamen. Der Träger hat Notebooks zur Verfügung gestellt, sodass sich die Frauen per Video in Gruppen treffen und aus der pandemiebedingten Isolation herauskommen konnten. Darüber sind wir auch wieder ins Gespräch gekommen. Wir geben niemanden auf.

Funk: Wir laden Menschen, die wir lange nicht erreichen, in Gruppen zu Workshops ein. Dann kommen doch wieder einige und wir fragen: Wo liegen Ihre Bedürfnisse? Speziell Geflüchtete wissen oftmals gar nicht, dass wir uns wirklich für ihre Meinung interessieren und dass sie uns als Behörde auch kritisieren dürfen. Viele sind ein anderes politisches System gewöhnt. Aber wenn sie merken, wir meinen das ernst, kommen echte Ergebnisse dabei heraus. Und das ist nicht nur gut für die Leistungsberechtigten, sondern auch für unsere Arbeit insgesamt im Jobcenter. Wir haben aber durchaus Erfolge auch in der Pandemie. Bei den Geflüchteten hatten wir eine Integrationsquote von 72 Prozent.

Ludwig: Wir waren auch immer sehr zufrieden. Auf dem Arbeitsmarkt hat sich immer was bewegt in Richtung Arbeit.

Das klingt fast nach einem Selbstläufer …

Ludwig: Ganz so ist es natürlich nicht. Wir mussten anschieben. Das haben wir zum Beispiel dadurch gemacht, dass alle Neuzugänge ein Beratungsangebot bekommen haben, spätestens nach drei Wochen. Wir haben sofort signalisiert: „Wir stehen zur Verfügung, wenn Sie Fragen zum Thema Arbeit haben, sich beruflich neu orientieren wollen.“ Und tatsächlich hatten wir Beschäftigte aus der Gastronomie, die nach mehreren Monaten Kurzarbeitergeld gefragt haben: „Ich mag nicht mehr, was kann ich anderes machen?“

Funk: Bei uns lag der Schwerpunkt darin, die Menschen emotional aufzufangen. Die Corona-Situation war für viele belastend. Wir haben Leistungsberechtigte, die in Flüchtlingsunterkünften wohnen. Wenn dort ein Corona-Fall auftrat, stand die ganze Einrichtung unter Quarantäne und die Menschen leben sehr dicht beisammen. Da mussten wir viel seelische Arbeit leisten, fernab dem Thema Arbeit. Andererseits: Nur wenn wir den Menschen zuhören, bleibt auch das Vertrauensverhältnis bestehen und wir können irgendwann wieder über Arbeit sprechen.

Ist Ihr Fallschlüssel von 1:40 der Schlüssel zum Erfolg?

Funk: Ja mit drei Ausrufezeichen. Wir sind dadurch näher am Menschen dran. Wir hatten einen Fall, wo jemand hochmotiviert war, aber enorm belastet durch Kriegstraumata. Wir haben mit dem Mann einen Therapeuten gesucht, sind mit ihm dorthin gegangen, waren bei einer Wohnungsbesichtigung dabei. Jetzt hatte er ein Vorstellungsgespräch. Aber sowas kostet uns über Monate viele Stunden Arbeit.

Ludwig: Wir haben einen Betreuungsschlüssel von 1:250. Da müssen wir uns natürlich externe Partner*innen holen. Hier ist es dann wichtig, dass wir eine Sprache sprechen. Die Mitarbeitenden der Träger sollen mit uns für die Leute arbeiten und nicht mit den Leuten gegen das Jobcenter. Wir halten hierzu engen Kontakt und vermitteln dazu unsere Philosophie.

Wie und mit wem netzwerken Sie, um auf neue Ideen zu kommen?

Funk: Ich finde Ideenaustausch wichtig. Deshalb haben wir bei mir im Team sogenannte Innovationsräume eingeführt. In dem Format tauschen wir uns einen Tag lang zu einer bestimmten Frage aus, zum Beispiel: Wie resilient sind wir? Oder welche neuen Beratungsansätze gibt es? Ich finde es wichtig, immer das Team in Entscheidungen von Führungskräften mit einzubeziehen. Wir arbeiten in den Innovationsräumen mit Methoden wie Zukunftswerkstatt oder World Café. Ich bin nicht immer dabei, damit die Mitarbeitenden auch mal ohne die Leitung sprechen können. Hin und wieder kommen externe Träger oder andere Partner*innen dazu.

Ludwig: Bei uns findet Vernetzung und Ideenaustausch auch quer über die Ebenen statt. Die Integrationsfachkräfte kennen die Fachkräfte von anderen Standorten, oft auch jene von anderen Jobcentern. Solche Netzwerke bilden sich zum Beispiel bei Weiterbildungen. Wer Teamleiter*in wird, durchläuft eine Seminarreihe. Darüber habe ich mir ein gutes Netzwerk in andere Jobcenter und Arbeitsagenturen aufgebaut. Während der Pandemie haben wir einige Skype-Treffen gemacht und uns ausgetauscht: Wie läuft es bei euch gerade, welche Konzepte habt ihr?

Funk: Ich tausche mich auch mit anderen Jobcentern aus, gerne direkt zu speziellen Themen. Neulich habe ich auf sgb2.info von der Videoberatung im Jobcenter Ravensburg gelesen – und einfach mal dort angerufen. Ein Austausch mit Kolleg*innen ist wichtig. Ich mag auch die Werkstattgespräche und die Jahreskonferenz, vor allem wegen der Gespräche am Rande.

Ludwig: Bei solchen Treffen kann man den eigenen Bereich verlassen und mal mit anderen ins Gespräch kommen. Die meisten Kontakte kommen bei persönlichen Treffen zustande. Ich habe von einem Netzwerke-ABC-Treffen den Tipp mitgenommen für eine Schulung zum Umgang mit psychisch Erkrankten. Der Tipp kam von einer Optionskommune und die Schulung bekommen jetzt auch Mitarbeitende hier bei uns. Solch ein Austausch funktioniert besser in Präsenz.

Funk: Das stimmt. Ich wünsche mir auch wieder mehr Austausch vor Ort.

Heute müssen Sie mit einem Gespräch per Video vorliebnehmen. Frau Funk, Sie führen bereits Videoberatungen mit Leistungsberechtigten durch. Können Sie Frau Ludwig dafür noch ein Go und ein No-Go verraten?

Funk: Auf Freiwilligkeit setzen. Wir verpflichten niemanden, sondern machen per E-Mail das Angebot zur Telefon- oder zur Videoberatung. Wir ermutigen die Menschen auch, es auszuprobieren. Das ist sowieso immer gut: einfach mal ausprobieren. Viele zweifeln, ob sie mit Videocoaching zurechtkommen. Aber es ist wie in der Forschung: Wenn das Ergebnis nicht signifikant ist, haben wir auch ein Ergebnis. Und ich würde Videoberatung auch breit anbieten. Niemals glauben: „XY kann das bestimmt nicht.“ Sie werden überrascht sein, bei wem es klappt.