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„Ungleichheit hat sich verschärft“

7. Mai 2021

Porträtfotos von Beate Langhammer und Yasmin Schilling.
Beate Langhammer (li.) und Yasmin Schilling sehen wachsende Probleme für Frauen durch die Corona-Pandemie. Gemeinsam haben sie aber auch Lösungen entwickelt.

Zwei Frauen kämpfen im Kommunalen Jobcenter des Main-Kinzig-Kreises für die Frauen. Die Vorstandsvorsitzende Beate Langhammer setzt sich für Homeoffice und agile Prozesse ein. Yasmin Schilling achtet als Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt (BCA) darauf, dass benachteiligte Frauen gut durch die Corona-Pandemie kommen. Ein Doppelinterview zur Lage und zu Lösungen für Frauen.

Lockdowns und neue Formen des Arbeitens fordern uns alle heraus. Es heißt aber oft, Frauen treffe die Situation besonders. Wie erleben Sie das bei der Betreuung und Beratung von Frauen?

Beate Langhammer: Ja, Frauen sind von der Corona-Krise besonders betroffen, vor allem im SGB-II-Leistungsbezug. Zum einen sind Frauen signifikant stärker in die Kinderbetreuung eingebunden. Zum anderen erkennen wir die Betroffenheit an den Zahlen der Neuanträge. Viele Frauen sind geringfügig beschäftigt oder arbeiten in Branchen, die besonders unter den Lockdowns leiden. Die geringfügig beschäftigten Frauen erhalten von uns häufig aufstockend Arbeitslosengeld II, haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld und bekommen beim Jobverlust kein Arbeitslosgengeld I.

Yasmin Schilling: Die Ungleichheit am Arbeitsmarkt hat sich während der Pandemie verschärft. Im Privaten gehen die Herausforderungen leider noch weiter. Für viele Frauen haben sich persönliche Probleme zugespitzt – bis hin zu häuslicher Gewalt. Zeitgleich mussten viele Beratungsstellen schließen, auch wir hier im Kommunalen Jobcenter konnten nur im absoluten Ausnahmefall Frauen persönlich empfangen.

Vor welchen speziellen Herausforderungen stehen Frauen am Arbeitsmarkt – vor, während und nach der Pandemie?

Schilling: Auch vorher waren es ja meistens Frauen, die die Betreuung schultern – von Kindern ebenso wie von pflegebedürftigen Angehörigen. Auch Alleinerziehende sind meistens weiblich. Die Vereinbarkeit mit dem Beruf ist seit jeher ein Problem. Hier hat sich die Lage zugespitzt, weil in der Pandemie die soziale und medizinische Infrastruktur ins Wanken geraten ist.

Langhammer: Hinzu kommt, dass gerade die weiblich dominierten Berufe besonders unter Druck stehen, von Dienstleistungen bis Gastronomie und Einzelhandel. Zugleich stellen Frauen die Mehrheit in vielen systemrelevanten Bereichen, etwa in Erziehungs- und Pflegeberufen. Dies alles sind Berufsfelder, die sich kaum ins Homeoffice verlagern lassen – obwohl das Kind zu Hause im Homeschooling sitzt.

Schilling: Beim Blick auf diese Lage ist unsere Sorge, dass sich der Arbeitsmarkt dauerhaft zum Nachteil von Frauen verändert. Alte Probleme, die fast ausgeräumt waren, verfestigen sich wieder. Viele Frauen, die gerade ihren Weg mit Familie und Beruf gefunden hatten, fühlen sich zurückgeworfen.

Was können Sie dagegen tun?

Langhammer: Wir haben unser bestehendes Angebot für Frauen überarbeitet und speziell die Ausbildung von digitalen Kompetenzen ergänzt. Und wir haben auch neue Maßnahmen gestartet, etwa „mom@work“. Schon im Namen wird der digitale Fokus deutlich. Das Angebot findet in einem virtuellen Klassenzimmer statt. Bei uns in einem Flächenlandkreis mit weiten Wegen ist das für die Teilnehmerinnen sehr praktisch. Der Aufbau dieses Angebots war allerdings für uns und unseren kreiseigenen Bildungsträger eine riesige Herausforderung. Wir mussten Tablets und Surfsticks als Leihgeräte für Teilnehmerinnen beschaffen, obwohl der Markt leergefegt war.

Wie haben Sie sich vor der Pandemie speziell um Frauen gekümmert – und wie hat sich diese Arbeit verändert?

Langhammer: Ich glaube, schnell und flexibel sind hier die Stichworte. Wir im Jobcenter sind Stehaufmännchen. Wenn es nicht rechtsrum geht, dann halt linksrum. Wir zeigen mit „mom@work“, dass wir als Jobcenter auf neue Rahmenbedingungen ad hoc reagieren können. Gerade in der heutigen Zeit müssen wir das Maßnahme-Portfolio agil anpassen. Agilität leben wir zugleich auch in unseren Abläufen: Neuanträge, Weitergewährungsanträge und Veränderungsmitteilungen sind bei uns online möglich. Im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten akzeptieren wir zurzeit auch Handyfotos von Anträgen, die uns per E-Mail erreichen.

Was können Sie in Ihren Funktionen als BCA und Vorstandsvorsitzende konkret für die Frauen tun?

Schilling: Was neben den technischen Möglichkeiten ebenso wichtig ist, ist das Zuhören und sich Zeit nehmen. Ein tröstendes, verständnisvolles Wort bewirkt oft Wunder. Wir wollen mit transparenter Kommunikation die Angst vor dem, umgangssprachlich gesagt, „Hartz-IV-Amt“ nehmen. Der emotionale Druck bei den Frauen ist hoch. Am Ende geht es da nur mit Vertrauen vorwärts.

Langhammer: Als Vorstandsvorsitzende liegen mir die Leistungsberechtigten am Herzen, aber ebenso meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Etwa 70 % unserer Beschäftigten sind Frauen, die Führung ist paritätisch besetzt. Wir haben hier weitreichende Möglichkeiten fürs Homeoffice geschaffen. Das war wirklich nicht einfach. Wir haben wegen vergaberechtlicher Probleme noch keine E-Akte. Deshalb müssen die Kolleginnen und Kollegen ihre Akten und Poststücke in verschließbaren Kisten zwischen Dienststelle und ihrem Zuhause transportieren. Trotzdem war die Pandemie für uns ein Sprung in die Zukunft. Wir machen unsere Führungskräftekonferenz jetzt per Videochat. Dieses andere Arbeiten hat die gegenseitige Rücksichtnahme gestärkt. Erst gestern huschte wieder ein Kind durchs Bild – und wenn ich dann als Vorstandsvorsitzende kurz mal der Kleinen winke und Hallo sage, bleiben alle entspannt.

Schilling: Als BCA wünsche ich mir das, was wir gerade intern erreichen, für alle Frauen. Ich mache viel Netzwerkarbeit, um frauenfreundliche Arbeitsplätze zu stärken. Auf kommunaler Ebene setze ich mich etwa für Kitaplätze ein – auch für erwerbslose Alleinerziehende. Wir wollen ja, dass die Frauen den Anschluss an den Arbeitsmarkt nicht verlieren. Und hier gibt es seit der Pandemie umso stärker die Aufgabe, digitale Kompetenzen zu vermitteln. Die Digitalisierung bietet ja hier eine Chance: Es entstehen neue Berufe und andere Arbeitsplätze.

Langhammer: Das mobilere Arbeiten wollen wir uns intern in jedem Fall in vertretbarem Umfang bewahren. Die Flexibilität stärkt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Gerade Frauen können ihre Wochenstundenzahl erhöhen, wenn der Weg zur Arbeit wegfällt. Einige sagen auch selbst, dass sie zu Hause effizienter arbeiten. Ich bin selber ins Homeoffice gegangen, um Vorbild zu sein. Wir haben von 400 Mitarbeitenden aber noch 100, die das Angebot aus unterschiedlichen Gründen nicht annehmen können.

Wo wollen Sie künftig Impulse setzen? Hat die Krise neue kreative Ideen hervorgebracht?

Langhammer: Ein zentraler Fokus ist für uns der Übergang von Familie zu Beruf – und hier speziell die unter 25-Jährigen, also junge Mütter. Da schaffen wir zurzeit niedrigschwellige und rechtskreisübergreifende Angebote. Es geht gerade hier nicht um Zuständigkeiten, sondern darum, junge Menschen vor dem Langzeitbezug von Leistungen zu bewahren. Bei unseren neuen Angeboten bestimmen digitale oder hybride Ansätze das Bild. Und was unsere Arbeit im Jobcenter betrifft: Wir erproben immer stärker ein agiles Projektmanagement. Verwaltung muss auch zukünftig noch viel schneller auf sich ändernde Gegebenheiten reagieren.

Schilling: In der Videoberatung sehe ich noch erhebliches Potenzial. Auch interne Videokonferenzen werden bleiben. Ich kann es mir kaum noch vorstellen, für ein 30-Minuten-Meeting mit dem Auto 90 Minuten durch den Landkreis zu fahren. Ich freue mich ehrlich gesagt auf die Zukunft, weil wir weiterentwickelt aus der Krise hervorgehen werden.

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