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Bürgergeld

Ein Jahr Bürgergeld

Das Bürgergeld ist eine der grundlegendsten Sozialreformen seit 20 Jahren. Was hat sich für Arbeitsuchende und Jobcenter verändert? Wo stehen wir ein Jahr nach der Einführung? Ein Beitrag von Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales.

BMAS / Dominik Butzmann

Heute, rund ein Jahr nach seiner Einführung, ist es für eine abschließende Bewertung des Bürgergeldes gewiss noch zu früh. Sicher ist aber: Wir haben mit dem Bürgergeld eine der grundlegendsten Sozialreformen der letzten Jahrzehnte umgesetzt. Denn das Bürgergeld steht für einen Sozialstaat, der den Menschen mit Vertrauen gegenübertritt, auf Qualifizierung setzt und Ängste nimmt, der Potenziale fördert und zuverlässig soziale Sicherheit bietet – auch in schwierigen Lebenssituationen. Es geht um Chancen und Schutz im Wandel.

Für diesen Kulturwandel war es höchste Zeit. Denn was in den 2000er Jahren, zur Einführung der sogenannten Hartz-Reformen, richtig erschien, brauchte zwanzig Jahre später dringend ein Update. Während damals Massenarbeitslosigkeit herrschte und Unternehmen reihenweise Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entließen, ist die größte Herausforderung in vielen Berufen und Regionen heute die Fachkräftesicherung. Es geht nun nicht mehr darum, Menschen möglichst schnell in eine beliebige Arbeit zu vermitteln, um Arbeitslosigkeit abzubauen. Im Mittelpunkt steht jetzt, Menschen die Chance auf eine dauerhafte Beschäftigung zu eröffnen – auch wenn das bedeutet, dass man zunächst in Aus- und Weiterbildung investiert.

Dem Bürgergeld-Gesetz liegt der Gedanke zugrunde, dass Menschen ihren Lebensunterhalt mit eigener Arbeit verdienen. Denn Arbeit ist mehr als nur Broterwerb. Sie bewirkt Austausch, Anerkennung und später eine angemessene Rente. Wer arbeitet, hat die Chance auf Aufstieg, auf mehr Teilhabe und Wohlstand.

Arbeit erfordert aber auch Aufwand und Engagement; deshalb verstärkt das Bürgergeld-Gesetz die Erfahrung, dass es sich auch finanziell lohnt, eine Arbeit aufzunehmen oder mehr Stunden pro Woche zu arbeiten. Das alles ist Teil des Bürgergeldes.

Existenzminimum ist abgesichert

Dabei bleibt das Bürgergeld zu allererst eine Leistung unseres Sozialstaates. Es sichert Menschen ab, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst finanzieren können. In eine solche Situation kann jede und jeder im Leben geraten: Menschen verlieren ihren Job, können wegen einer chronischen Krankheit nicht mehr arbeiten oder müssen ihr Geschäft schließen, weil die Kundschaft fehlt. Wir haben in der Pandemie erlebt, wie schnell das gehen kann. Deshalb wollen wir Menschen mit dem Bürgergeld in Krisenzeiten auffangen. Deswegen ist ein erster Erfolg des Bürgergeldes für mich die Erhöhung der Regelsätze. Denn das Bürgergeld soll das Existenzminimum absichern – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das garantiert unsere Verfassung. Dazu gehört auch, dass die Kosten für Wohnung und Heizung übernommen werden.

Weiterhin ist es richtig, dass die Ersparnisse im ersten Jahr des Bürgergeldbezugs geschützt werden, damit die Menschen den Kopf frei haben für die Jobsuche. Denn gerade in der Anfangszeit sind die Chancen besonders hoch, den Weg zurück in Arbeit zu finden. Und wer einen Teil seines Lebensunterhaltes bereits durch einen Job decken kann, darf aufgrund der verbesserten Freibeträge mehr von seinem Einkommen behalten.

Klarer Kurs Richtung Weiterbildung und Coaching

Damit dieser Weg in Arbeit dauerhaft gelingt, braucht es allerdings mehr als die bloße Sicherung des Existenzminiums. Deshalb haben wir Weiterbildung und Qualifizierung ins Zentrum gestellt. Oft sind fehlende Qualifikationen eine Hürde, um den passenden Job zu finden, der auch finanziell genügend Sicherheit bietet. Denn zwei von drei Langzeitarbeitslosen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Das bisherige System führte dazu, dass viele von ihnen durch den sogenannten „Vermittlungsvorrang“ in Hilfstätigkeiten vermittelt wurden, zum Beispiel im Saisongeschäft, aber schon nach wenigen Monaten wieder das Jobcenter aufsuchen mussten.

Mit dem Bürgergeld-Gesetz haben wir nicht nur den Vermittlungsvorrang abgeschafft, sondern wir ermutigen Arbeitsuchende auch, Schul- und Berufsabschlüsse nachzuholen und sich weiterzubilden. Dafür gibt es auch attraktive finanzielle Anreize: Wer etwa eine abschlussorientierte Weiterbildung macht, bekommt 150 Euro mehr im Monat. Für die Teilnahme an Maßnahmen, die für die nachhaltige Arbeitsmarktintegration wichtig sind, werden 75 Euro monatlich gezahlt. Weiterbildung lohnt sich also nicht nur langfristig, sondern wird auch kurzfristig belohnt.

„Ausbildung vor Aushilfsjob“ heißt unser Grundsatz. Wir wollen, dass mehr Menschen den Schritt in eine Weiterbildung wagen. Und das gilt auch für den Erwerb von Grundkompetenzen wie Lesen, Mathematik oder IT-Kenntnissen. Jede und jeder soll die Förderung bekommen, die gebraucht wird – und auch die notwendige Zeit zum Lernen. So stärken wir die Menschen dabei, langfristig wieder eigenständig ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Viele Menschen, die Bürgergeld beziehen, hatten einen schweren Start im Leben oder sind in persönliche Krisensituationen geraten. Sie brauchen eine intensive und ganzheitliche Betreuung, die alle Lebensbereiche in den Blick nimmt. Mit Unterstützung des Jobcenters können sie nun auch eine umfassende Betreuung mit Coaching in Anspruch nehmen. Das kann dabei helfen, wirklich etwas zu verändern und den Glauben an die eigene Wirksamkeit zurückzugewinnen – und vielleicht eine Ausbildung oder eine Umschulung anzugehen.

Eindrücke aus der Praxis der Jobcenter als Erfolgsfaktor

Einen Systemwechsel wie die Einführung des Bürgergeldes schafft man nicht von heute auf morgen. Man kann ihn nicht einfach von oben verordnen, sondern er muss auch in der Praxis funktionieren. Deswegen war es mir wichtig, von Anfang an diejenigen einzubeziehen, die sich am besten auskennen. Wir haben mit betroffenen Menschen gesprochen, mit den Kolleginnen und Kollegen in den Jobcentern und uns mit Fachleuten aus der Wissenschaft beraten. Dabei war unser Ziel immer klar: Wir wollen Brücken aus der Bedürftigkeit bauen. Niemand soll sich schämen, zeitweilig Hilfe vom Sozialstaat in Anspruch nehmen zu müssen. Jeder Mensch muss mit dem Existenzminimum abgesichert sein.

Ich bin sehr dankbar für die vielen wertvollen Eindrücke, die wir in diesen Gesprächen gewonnen haben. Denn am Ende sind Gesetze – gerade in der Sozialpolitik – nur dann etwas wert, wenn sie auch im täglichen Leben der Menschen ankommen.

Deswegen war es mir zum Beispiel wichtig, dass das Bürgergeld allen zugänglich und leicht zu beantragen ist. Das haben wir erreicht, indem Anträge von Anfang an online verfügbar waren und eingereicht werden konnten.

Ebenso wichtig wie die Perspektive der Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger ist aber auch, dass es in der Verwaltung rund läuft. Davon habe ich mir immer wieder vor Ort ein Bild gemacht. Ein Weg führte mich in das kommunale Jobcenter nach Solingen. Dort wurden von den Mitarbeitenden viele der Änderungen mit offenen Armen angenommen – auch dann, wenn die Einführung erst einmal einen Mehraufwand bedeutete. Die Mitarbeitenden dort haben vor allem die Verbesserungen für junge Menschen und den Fokus auf Qualifizierung als Bereicherung empfunden. Hier hatte ich das Gefühl, dass das Bürgergeld-Gesetz nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern eine Bereicherung ist.

Viele Jobcenter setzen schon seit Jahren auf mehr Kooperation, Unterstützung und Ermutigung. Auch sie haben einiges dazu gelernt und sich auf eine neue Situation eingelassen. Das erfordert Einsatz, braucht Zeit und gute Ideen. Denn das Bürgergeld gibt einen gesetzlichen Rahmen vor, bietet aber auch viel Spielraum zur praktischen Umsetzung vor Ort. Umso wichtiger ist es, dass die Jobcenter ihre Erfahrungen und Ideen untereinander austauschen und praktische Ansätze miteinander teilen. Diesen Austausch fördern wir als Ministerium ganz ausdrücklich, denn er füllt die neue Kultur des Bürgergeldes mit Leben. Vieles davon kann auf der Internetseite www.sgb2.info nachgelesen werden.

Persönlich beeindruckt hat mich, mit welchem Engagement die Mitarbeitenden in den Jobcentern das Bürgergeld-Gesetz umsetzen. Diese Umsetzung verlangt den Kolleginnen und Kollegen viel ab. Doch was ich überall erlebt habe, ist der Wille, für die Menschen da zu sein. Was ich auch sehr positiv in Erinnerung habe, sind die konstruktiven Diskussionen. Wie schaffen wir Arbeit, die zum Leben passt? Wie kann der Staat Menschen im Lebensverlauf besser unterstützen und vor Armut schützen? Und wie wollen wir morgen arbeiten? Auch mit dem Bürgergeld-Gesetz haben wir noch nicht auf alle Fragen die passenden Antworten gefunden – aber wir bleiben im Dialog.

Für mich ist aber auch klar: Das Bürgergeld ist kein abgeschlossener Prozess. Seine Umsetzung lebt von Beteiligung und Austausch. Neue Prozesse müssen sich erst einspielen und ganzheitliche und gute Betreuung benötigt Zeit. Die Finanzierung muss den Jobcentern ausreichend Freiraum lassen, um die neuen Aufgaben stemmen zu können. Hierfür werde ich mich auch weiterhin stark machen.

Genauso macht sich die laufende Qualifizierung der Mitarbeitenden in den Jobcentern nicht von selbst. Wichtig ist mir, die gute Arbeit der Jobcenter weiterhin in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Bürgergeld stärkt sozialen Zusammenhalt

Nach einem Jahr Bürgergeld können wir festhalten: Unser Staat ist für alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Land da, wenn sie ihn brauchen. Niemand wird zurückgelassen und jede und jeder verdient eine Chance. Mit dem Bürgergeld stärken wir den sozialen Zusammenhalt und schaffen Sicherheit in turbulenten Zeiten. Gerade jetzt, wo gesellschaftliche Spannungen durch Pandemie, Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten und steigende Preise so präsent sind wie lange nicht, muss auch die Sozialpolitik Antworten liefern. Durch Maßnahmen wie das Kurzarbeitergeld, die Entlastungspakete und eben auch das Bürgergeld haben wir viel für den sozialen Zusammenhalt im Land geschafft.

Denn auch wenn es beim Bürgergeld natürlich in erster Linie immer darum geht, in einer individuellen Notlage zu helfen, erfüllt es auch eine weitere übergeordnete Aufgabe: Als Netz der sozialen Sicherung gibt es allen die Gewissheit, dass sie sich auch in schwierigen Zeiten auf den Sozialstaat verlassen können und die Unterstützung bekommen, um sich aus eigener Kraft wieder aufzurichten. Diese Gewissheit bildet die Grundlage für sozialen Zusammenhalt in unserem Land.

Deshalb ist das Bürgergeld ein Schritt nach vorn, für jeden Einzelnen, aber auch für uns alle als Gesellschaft.

Hubertus Heil, MdB
Bundesminister für Arbeit und Soziales

Erschienen in: Der Landkreis 2023, Ausgabe 12, S. 720 f.