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Beratung

Die Evolution einer Revolution - Videoberatung im Vogtland, im Jerichower Land und im Ostalbkreis

Viele Jobcenter führten während der Pandemie Videoberatungen ein. Doch gerade auf dem Land, wo die Wege lang sind, reagieren die meisten Leistungsberechtigten zögerlich.

Wer ins Jobcenter Vogtland kommt, hat häufig keine Anfahrt, sondern eine Anreise hinter sich. Von Bad Brambach an der Grenze zu Tschechien bis nach Plauen sind es rund 50 Kilometer querfeldein durchs südliche Sachsen. Spontan macht sich da kaum jemand auf den Weg. Einzelne Vermittler*innen erprobten während der Pandemie die Videoberatung – und wollen diese Möglichkeit auch angesichts der Entfernungen im Vogtland nicht mehr missen. „Die Pandemie-Zeit hat uns in unseren technischen Kenntnissen unheimlich nach vorne gebracht“, berichtet Vermittlerin Ulrike Hermann.

Sie und drei Kolleg*innen aus dem Netzwerk ABC nutzen Videogespräche regelmäßig, weitere elf Vermittler*innen bieten diese Beratungsform ebenfalls an. „Sich zu sehen ist oftmals angenehmer als ein Telefongespräch“, sagt Hermann. „Und dieser kurze Draht ins obere Vogtland nahe der Grenze ist schon eine praktische Sache.“ Das Jobcenter Vogtland gehörte zu jenen gemeinsamen Einrichtungen, die früh den sogenannten Videokanalmanager der Bundesagentur für Arbeit ausprobieren konnten. Das Jobcenter hat eine feste Anzahl von Kanälen – jeder ist wie ein virtuelles Büro, das für eine bestimmte Zeit reserviert werden kann. Leistungsberechtigte bekommen einen Link per E-Mail, das Gespräch kommt über den Browser am Computer oder am Smartphone zustande.

Hermann blickt jedoch nüchtern auf die Erfahrungen: „Nur eine Minderheit unserer Kunden nimmt es gut an und möchte die Videoberatung wieder machen.“ Sie schätzt, dass etwa 40 Prozent einen zweiten Videotermin wollen. Dabei bieten die Vermittler*innen nur gezielt jenen Leistungsberechtigten einen ersten Videotermin an, denen sie es technisch zutrauen. Und es sagen dann auch nur diejenigen Ja, die es freiwillig ausprobieren wollen. Weshalb diese Zurückhaltung? Ulrike Hermann sieht mindestens drei Gründe:

Respekt vor dem Neuen: Kaum jemand sagt spontan einer Videoberatung zu. Hermann berichtet, dass viele Leistungsberechtigte Schritt für Schritt herangeführt werden wollen. Das funktioniere am besten durch ein vorheriges persönliches Gespräch. Hermann zeigte Maßnahme-Teilnehmenden direkt vor Ort, wie die Videoberatung funktioniert – Klick für Klick.

Mangelhafte Technik: Manche Leistungsberechtigte haben keinen Internetanschluss. In vielen Teilen des Vogtlandkreises sind die Anschlüsse langsam – und die Mobilfunknetze haben Funklöcher. Diese Probleme machen selbst vor dem Jobcenter nicht Halt, berichtet Hermann: „Auch unser Internetanschluss hier im Haus ist nicht der schnellste. Die Verbindung bricht selbst bei uns mal weg.“

Kein Bezug zum Digitalen: Die meisten von Hermanns Klient*innen sind schon lange arbeitslos, viele sind über 50. Für sie ist digitale Kommunikation nicht Teil ihres Alltags. „Kurzfristige Einladungen funktionieren oft nicht“, sagt Hermann. „Manche schauen fünf Tage oder länger nicht in ihr E-Mail-Postfach.“

All die Probleme entmutigen Hermann und ihre Kolleginnen nicht – im Gegenteil: Sie wollen Leistungsberechtigte unterstützen. Und das funktioniert: Hermann verabschiedete gerade einen Langzeitarbeitslosen ins reguläre Arbeitsleben. Der 59-Jährige lernte seinen Arbeitgeber in einem Videogespräch kennen. „Bisher kannte sich der Mann kaum mit digitaler Technik aus“, berichtet Hermann. „Aber er war offen dafür. Dorthin müssen wir die Menschen bekommen.“

Dieses Credo verfolgt auch Markus Weidel. Der Geschäftsführer des Jobcenters Jerichower Land in Sachsen-Anhalt berichtet von ähnlicher Zurückhaltung wie im Vogtland. Sein Jobcenter wirbt um jeden einzelnen Leistungsberechtigten, zehn Gespräche per Video habe es 2021 gegeben. „Man muss schon Überzeugungsarbeit leisten. Erfolgreiche Videoberatung lebt von den guten Erfahrungen“, sagt Weidel. Auch die digitale Revolution braucht ihre Zeit. „Wir sind nicht Hamburg oder München, wo die Offenheit für Digitales so groß ist.“

Weidels These: Durch Zeit und gezielte Öffentlichkeitsarbeit wird sich Videoberatung etablieren. Seine Blaupause ist jobcenter.digital: Inzwischen gehen im Jerichower Land 9,4 Prozent der Weiterbewilligungsanträge online über das Portal ein. Das liege weit über dem Schnitt im Bezirk, sagt Weidel. Das Jobcenter erreichte dies, indem es Leistungsberechtigte gezielt dort hinführte. Es schickte zunächst einer 100-köpfigen Testgruppe nicht mehr automatisch den Antrag per Post. Stattdessen riefen Mitarbeitende des Servicecenters bei den Menschen an und führten sie Schritt für Schritt durch das Portal jobcenter.digital. So spricht sich nach und nach herum, wie praktisch der papierlose Antrag ist.

Für Ursula König vom kommunalen Jobcenter Ostalbkreis sind Angebote wie die Videoberatung auch ein Instrument, den Leistungsberechtigten die digitale Welt an sich näherzubringen. „Viele unserer Kundinnen und Kunden fühlen sich ohnehin bei vielem abgehängt – das sollte nicht auch noch für das soziale Miteinander im Netz gelten“, sagt die Geschäftsstellenleiterin. Es könne auch Aufgabe des Jobcenters sein, den Menschen die Technologie zu zeigen und diese mit uns auszuprobieren. „Für die berufliche und die soziale Teilhabe ist das wichtig.“

Das Jobcenter Ostalbkreis führte noch im ersten Corona-Lockdown 2020 das Video-Tool Big Blue Button ein. Dessen Nutzerfreundlichkeit sei innerhalb der Belegschaft als sehr gut empfunden worden. Der Dienst erfordert keine Software-Installationen, sodass Kund*innen ihn ohne großen Aufwand nutzen können. Zunehmend finden auch Dienstbesprechungen über Big Blue Button statt. Die Jobcenter-Mitarbeitenden boten die Videoberatung bevorzugt Menschen mit langen Anfahrtswegen, Erziehenden sowie mobilitätseingeschränkten Personen an. „Jüngere waren eher interessiert, aber es gab auch bei einigen Vorbehalte, das Angebot anzunehmen“, berichtet König. „Viele haben doch lieber schnell zum Telefon gegriffen, als diese neue Möglichkeit auszuprobieren.“

Diese Haltung will das Jobcenter aufbrechen, indem es für die Vorteile wirbt. Die Voraussetzungen dafür wurden in der Pandemie geschaffen. Videogespräche sind inzwischen auch im internen Controlling anerkannt: Während im Ostalbkreis früher nur die Präsenzberatungen zur Kontaktdichte zählten, gelten heute auch Telefonate, Videoberatungen, aufsuchende Beratung und Beratungen mit Dritten. Weitere Beratungsformen sollen nach und nach aufgenommen werden. Die Jobcenter haben also vorgelegt – und müssen jetzt die breite Masse ins Neuland mitnehmen.