Thomas Meuche war bis zur Brust sichtbar. Kopf, Schultern, zwei geschlossene Hemdknöpfe – mehr optische Eindrücke bekamen die Teilnehmenden der vierten Veranstaltung der digitalen Reihe „Qualitätsarbeit im SGB II – Chancen im Wandel nutzen“ nicht vom Referenten. Warum das wichtig ist? Der Professor am Kompetenzzentrum Digitale Verwaltung der Hochschule Hof beschäftigt sich wissenschaftlich mit digitaler Kommunikation. Und die ist in Zeiten von Videokonferenzen zwar flexibler, hat aber entscheidende Defizite.
„Ihnen entgehen gerade wichtige Informationen“, sagte Meuche zu den Teilnehmenden des Video-Streams. „Digitale Technologien steigern die Effizienz der Kommunikation, sie reduzieren aber die Beziehungsebene, die Kommunikation auch hat.“ Inhalte lassen sich vermitteln, eine Beziehung baut sich aber nur schwer auf. Auch die meisten nonverbalen Signale fehlten. „Ein Aufbau von Vertrauen gelingt leichter, wenn der Mensch als Ganzes erlebt wird.“ Meuche übertrug das auf die Videoberatung in Jobcentern. Sie böten den Leistungsberechtigten eine Beratung im Schutz ihres Zuhauses. Doch in der fremden Umgebung des Dienstbüros verhalte man sich anders.
Eine Fehlerkultur entwickeln
Meuches zweites Thema neben der Kommunikation: Wie gelingt die Digitalisierung der Verwaltung? Die größte Herausforderung sieht er in Organisationen, die keine Fehlerkultur leben. „Wenn Sie Fehler nicht zulassen, werden Sie in der Digitalisierung keine großen Fortschritte machen“, sagte Meuche. Es sei ein strukturelles Problem, dass die Digitalisierung das offene Ausprobieren erfordere, Behörden generell aber keine Fehler machen sollten. „Es kann keine Fehlerkultur geben, weil es keine Fehler geben darf. Und deshalb kann sich keine lernende Organisation entwickeln.“ Meuche rief die Teilnehmenden dazu auf, Neues auszuprobieren – im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten. „Wir werden nicht nur über Kommunikation nachdenken müssen, sondern über Kulturwandel.“
Thomas Meuche beschäftigt sich als Professor an der Hochschule Hof mit der Digitalisierung der Verwaltung.
In der folgenden Diskussion gab es weitere spannende Sichtweisen:
Den Schwung beibehalten:
Matthias Schäffer, Strategieentwickler aus der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit, äußerte den Eindruck, dass der Schwung für und die Freude an Digitalisierung im Laufe der Pandemie etwas zurückgegangen sei. „Die erste Phase der Digitalisierung ist leicht – da stellt man die Technik zur Verfügung und startet“, sagte Schäffer. „Dann geht es ab der nächsten Phase darum, den Schwung mitzunehmen.“
Mehr Offenheit fürs Digitale:
Thomas Meuche geht mit Blick auf eine Studie der Boston Consulting Group davon aus, dass etwa ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger gar kein Interesse daran haben, digitale Angebote von Verwaltungen zu nutzen. Besonders spannend: Die Bereitschaft ist auch eine soziale Frage. In der Gruppe der Ablehnenden verdienten 46 Prozent weniger als 1.500 Euro netto. Menschen zu befähigen, in der digitalen Welt leben zu können, sei somit eine gesellschaftliche Aufgabe. Jobcenter-Geschäftsführer Martin Greiner aus Nordwestmecklenburg schätzte die Zahl seiner Leistungsberechtigten, die „digitalen Möglichkeiten abgeneigt“ seien, auf eher zwei Drittel.
Ausstattung verbessern:
Anette Farrenkopf, Geschäftsführerin des Jobcenters München, wies auf das Problem fehlender Technik hin. Kein WLAN oder mangelndes Datenvolumen auf dem Handy seien große Themen bei den Leistungsberechtigten. Die Anschaffung digitaler Geräte sei in der Pandemie vor allem für Schülerinnen und Schüler gefördert worden, doch es gebe noch viel mehr Bedarf, sagte Farrenkopf: „Flüchtlingsunterkünfte sind nicht immer mit WLAN ausgestattet. Dadurch konnten viele Flüchtlinge lange nicht an Integrationskursen teilnehmen.“
Digitale Kompetenzen:
Noch zu wenige Leistungsberechtigte fühlen sich sicher im Umgang mit digitalen Technologien. Diese Beobachtung machen nicht nur Jobcenter in ländlich geprägten Regionen, sondern ebenso in Ballungsräumen. Anette Farrenkopf bestätigte das für München. Sie sieht in der Weiterbildung digitaler Kompetenzen viel Bedarf. „Dadurch können die Menschen nicht nur an unseren digitalen Prozessen im Jobcenter besser teilhaben, sondern auch am gesellschaftlichen Leben insgesamt“, sagte Farrenkopf.
Neue Wege der Kommunikation:
Darunter versteht Ralf Bierstedt nicht zwingend digitale Kanäle. Der Geschäftsführer des kommunalen Jobcenters Münster hat in seinem Haus den Zukunftsprozess 2030 ausgerufen. Er wolle generell in Erfahrung bringen, wie die Mitarbeitenden sich künftig Beratung und Kommunikation mit den Leistungsberechtigten vorstellen – partizipativ aus der Mitte der Belegschaft heraus. „Es helfen keine oktroyierten Konzepte, so etwas muss intrinsisch wachsen“, sagte Bierstedt. Das Jobcenter sei Dienstleister und wolle Leistungsberechtigten jene Kommunikationsform anbieten, die gewünscht ist. Dazu gehörten heutzutage auch verschiedene digitale Kanäle. Bierstedt gab jedoch zu bedenken: „Der Datenschutz hält uns an der Stelle sehr gefangen.“
Gute Beratung vor Ort:
Martin Greiner war aus Wismar zugeschaltet. Im Erdgeschoss des Jobcenters Nordwestmecklenburg entsteht ein sogenanntes Jobcafé mit persönlicher Vor-Ort-Beratung in angenehmer Atmosphäre. Greiners Ziel: Die Beratung auch mal vom Schreibtisch wegzubewegen, schließlich gehe der Trend hin zu mehr Augenhöhe statt Sanktionen. „Die beste Beratung ist doch diejenige, wo am Ende beide Seiten auseinander gehen und sagen: ‚Es war ein gutes Gespräch, das hat mich weitergebracht.‘“
Martin Greiner, Geschäftsführer des Jobcenters Nordwestmecklenburg, war im zweiten Teil der digitalen Reihe auf dem Podium vertreten.
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