Herr Schmidt hat es geschafft: Nach einer langen Durststrecke liegt eine Einladung zum Vorstellungsgespräch in seinem E-Mail-Postfach. Eine Stelle als Hausmeister, Festanstellung, in einem größeren Unternehmen. Doch mit der Einladung kommt eine Überraschung: Das erste Gespräch soll per Videokonferenz stattfinden. Herr Schmidt hat schon Videochats ausprobiert – per Handy mit Freunden vom Fußballstammtisch. Aber ein so offizieller Anlass? Das ist Neuland.
Seit den Corona-Lockdowns ist dieses Neuland Realität und diese Realität bleibt auch nach der Pandemie bestehen. „Je größer das Unternehmen, desto digitaler ist heute häufig der Bewerbungsprozess“, beobachtet Arbeitsvermittlerin Madlen Körner aus dem Jobcenter München. Das beginne beim ersten Kontakt: Unterlagen per Post sind zunehmend unerwünscht. Stattdessen müssen Bewerber*innen ihre Angaben auf Portalen hochladen. „In der Schule lernen Jüngere aber heute noch, wie sie einen Lebenslauf aufbauen, ihn ausdrucken und als Brief verschicken.“
Mit ihren Kolleg*innen arbeitet Körner intensiv daran, alle Leistungsberechtigten für eine digitalisierte Welt fit zu machen. „Uns ist wichtig, den Menschen die Angst vor Technik zu nehmen. Wer nicht aktiv im Berufsleben steht, hat manchmal sogar Hemmungen, eine E-Mail zu schreiben.“ Das sei eine Hürde für Bewerbungen, für den Berufsalltag, aber auch zunehmend für die Kommunikation mit dem Jobcenter. „Wir als Behörde digitalisieren uns ja auch“, sagt Körner mit Blick etwa auf jobcenter.digital. „Und die sozialen Träger bieten immer mehr digitale Angebote.“
Um Hemmungen abzubauen, ist das Einfach-mal-Machen die beste Lösung. Fälle, wie jener von Herrn Schmidt, zeigen das – auch wenn dieses Beispiel anonymisiert wurde. Doch Madlen Körner aus dem Sozialbürgerhaus Nord hat tatsächlich schon digitale Vorstellungsgespräche mit Leistungsberechtigten geübt, indem sie selbst mit ihnen eine Videoberatung durchgeführt hat. In Gesprächen mit den Leistungsberechtigten erörtern Körner und ihre Kolleg*innen auch: Wie suche ich im Internet? Bei welchen Quellen ist Vorsicht geboten? Das Jobcenter schaut sogar, wie sich Menschen im Netz präsentieren. Vor einer Bewerbung könne es sinnvoll sein, sich einmal selbst zu googeln, sagt Körner – und zu schauen, ob Partyfotos auf Facebook nicht ein falsches Bild vermitteln.
Körner sieht in der digitalen Kommunikation aber weniger Gefahren als Chancen. Insbesondere Leistungsbeziehende mit besonderen Bedürfnissen profitieren: Sie können Arbeits- und Vermittlungsgutscheine des Jobcenters nicht nur vor Ort einlösen, sondern auch bundesweit bei Trägern. Diese können ihre Schulungen und Beratungen per Telefon oder online anbieten. „Es gibt dadurch heute teils bessere Angebote als früher, weil sie eben nicht mehr an einen Ort gebunden sind“, sagt Körner. „Wir können dadurch noch genauer die Interessen und Stärken der einzelnen Menschen bedienen.“
Ganz neue Bildungswege werden möglich. Kürzlich vermittelte Körner eine Leistungsbezieherin in eine Weiterbildung zur Gamedesignerin, die komplett im Homeoffice stattfindet. Dies sei optimal: Die Frau liebe Videospiele, könne aber wegen einer chronischen Erkrankung kaum ihre Wohnung verlassen. Auch ihren Beruf könnte sie später komplett von zu Hause ausüben – weshalb dann nicht schon die Weiterbildung? „Auch für alle Erziehenden sind solche flexiblen Modelle natürlich interessant“, sagt Körner.
Während das Angebot wächst, bleibt mindestens eine Herausforderung: Vielfach fehlt den Menschen die technische Ausstattung, um sich souverän in allen digitalen Situationen zu bewegen. Dafür gibt es jedoch Lösungen. Einige Veranstalter*innen von Onlinekursen verleihen direkt die nötige Hardware. Das Jobcenter wiederum vermittelt zu bundesweiten Trägern, die Geräte und Surfsticks mit Internet-Datenvolumen bereitstellen.
Für die Mitarbeitenden sind solche Tätigkeiten neu. Das digitale Wissen innerhalb der Behörde wächst jedoch stetig – nicht zuletzt, weil die Pandemie als Beschleuniger der Digitalisierung wirke. Für die Videoberatung etwa gab es schnell eigene Schulungen. Auch der Leistungsbereich innerhalb des Jobcenters arbeitet viel digitaler, seit Anträge auf Weiterbewilligung online gestellt werden. Madlen Körner lernt persönlich am liebsten durchs Ausprobieren: Sie belegte einen Kurs für die Programmiersprache Java.
Ist digitaler Rückstand kein Problem der jüngeren Generation? Nein. „Speziell Jugendliche machen alles mit ihrem Handy, aber sie können häufig nicht mit Office-Programmen umgehen“, sagt Körner, die zuvor Vermittlerin für die U25 war. „Auch in der jungen Generation fehlt also digitales Wissen. Zum Beispiel: Wie formatiere ich ein Dokument?“ Für diese jüngere Gruppe brauche es ebenfalls Angebote. Körner verweist auf Kooperationen mit sozialen Trägern, die Leistungsberechtigten Arbeitsplätze mit Desktop-Rechnern zur Verfügung stellen. Steht ein Online-Bewerbungsgespräch an, können es die Bewerber*innen von dort führen anstatt von ihrem privaten Handy.
Ausgerechnet die Digitalisierung führt Menschen also an analoge Orte. Dieser Gedanke liegt auch einer neuen Idee in München zugrunde, einer Art „Job-Internetcafé“. Gemeinsam mit einem Träger will das Jobcenter ein Forum schaffen, in dem Menschen alle Fragen zu digitalen Angeboten stellen dürfen und Berührungsängste abbauen. Konkret bedeutet das: Ein Ort, an dem Menschen vielleicht die erste E-Mail ihres Lebens schreiben – oder das erste Mal erleben, wie soziale Onlinemedien funktionieren. Im Unterschied zu einem Bewerbungszentrum, das es bundesweit vielerorts gibt, wird ein „Café-Ambiente mit Computerarbeitsplätzen und Schulungsangebot“ entstehen, wie Jobcenter-Sprecher Frank Donner es beschreibt. „Geplant ist ein offener Zugang mit Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern vor Ort.“
Fragen tauchen nämlich ständig auf, wenn Menschen ausprobieren. „Eine Kundin kam mal zu mir und war ganz enttäuscht, dass wirklich niemand auf ihre Bewerbungen antwortet“, berichtet Körner. „Wir haben dann gemeinsam in ihren E-Mail-Account geschaut und festgestellt: Der Speicherplatz ihres Postfachs ist voll.“