Arbeiten im Schutzbüro – das sei „ungefähr so wie im Besucherraum der JVA“, sagt André Johannes und lacht. Schutzbüros heißen im Jobcenter Osnabrück jene Räume, in denen trotz Coronakontaktbeschränkungen persönliche Beratung möglich ist. Gäste tragen Masken, Mitarbeitende sitzen hinter Plexiglas, und das Fenster ist immer offen. Kurzum: keine Wohlfühlatmosphäre. In Osnabrück schuf man deshalb ein Beratungsumfeld, das trotz größerem Abstand mehr Nähe ermöglicht. André Johannes und sechs Kolleginnen und Kollegen beraten auch per Video.
Das Experiment startete im Frühjahr so spontan, wie auch die Coronakontaktbeschränkungen begannen. „Wir haben uns nicht theoretisch vorbereitet, sondern einfach angefangen“, erzählt Johannes und spricht von „Fehlerkultur“. In so einer Situation sei es das Beste, einfach auszuprobieren und es besser zu machen, sobald Fehler auffallen. Das Jobcenter Osnabrück nahm die Dinge in die Hand – was in diesem Fall bedeutet: Sie nahmen die Tablets in die Hand. In der hauseigenen Werkakademie, wo sonst Trainer die Arbeitssuchenden sehr eng bei der Jobsuche begleiten, gab es schon moderne, mobile Technik für Videokonferenzen. Lizenzen für die notwendige Software kaufte das Jobcenter kurzerhand dazu.
Niemand muss, aber viele wollen Video.
Verpflichtet zum Dienst vor der Kamera wurde niemand – auch die Leistungsberechtigten nahmen freiwillig teil. Das Jobcenter beschränkte sich auf Ausbildungs- und Berufsberatung: Johannes sprach mit Jugendlichen über ihre Zukunft und mit über 50-Jährigen über ihre beruflichen Chancen. Für andere Themen – etwa Fragen rund ums Geld – mussten Jobcenter-Mitarbeitende und Leistungsberechtigte weiter ins Schutzbüro kommen.
Die neue Gesprächssituation per Video war für alle etwas Besonderes – für André Johannes besonders erfreulich: „Es gab Kunden, die sagten: ‚Mensch, ist ja schön, Sie wiederzusehen.‘ Das erlebe ich hier auch nicht alle Tage.“ Die meisten Gespräche seien nach kurzer Zeit ganz normal verlaufen. Schließlich waren die Inhalte die gleichen wie in der persönlichen Beratung, und die Jobcenter-Belegschaft ist darin erfahren. Nur manchmal streikte die Technik – aber diese kleinen Hürden seien auch gute Anlässe für Smalltalk gewesen, sagt Johannes.
Datenschutz als Sorgenkind.
Den anpackenden Pragmatismus von André Johannes teilt auch sein Kollege Stefan Wellmann. Er ist Pressesprecher des Osnabrücker Jobcenters und war bei den Videogesprächen in seiner Funktion als Datenschutzbeauftragter gefragt. Rechtlich, sagt Wellmann, sei das Jobcenter beim Thema Datenschutz noch in einem Dilemma. „Manche meinen, wir dürften gar keine Videokonferenzen machen, weil alle Server in Amerika stehen. Es gibt aber auch keine Empfehlung des Bundesbeauftragten für Datenschutz, welche Alternativen zur Verfügung stehen.“ Die Osnabrücker schafften deshalb vorab Sicherheit: Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterzeichneten eine Einverständniserklärung.
Wellmann bedauert, die gesamte Jobcenter-Welt habe sich lange nicht um Videoberatung gekümmert und Erfahrung für den Ernstfall gesammelt. Ausrüstung, Finanzierung und rechtliche Hürden seien kaum diskutiert worden. Durch die Coronapandemie wurde dies plötzlich akut. „Corona war in Sachen Digitalisierung wie ‚Durchkärchern‘. Es hat an einigen Stellen den herkömmlichen Workflow auf den Kopf gestellt – eine gute Gelegenheit, alte Gewohnheiten zu überprüfen.“
Das Experiment aktiviert auch die Belegschaft.
Für Gewohnheiten war auch in Osnabrück keine Zeit. Statt klassischer Schulungen war Selbsthilfe gefragt. Wie Videokonferenzen funktionieren, könne sich jeder online per Erklärfilm beibringen, meint Wellmann. Er selbst beobachtete diesen souveränen Umgang mit Technologie in der eigenen Familie: Sein Sohn, erzählt Wellmann, habe mit 13 Jahren online gelernt, Skateboards zu bauen. „Hier hatten wir eine steile Lernkurve“, fasst Wellmann die Situation im Jobcenter zusammen.
Die Resonanz gibt den Osnabrückern Recht: Kein Videoberater gab auf. Und drei Viertel der Leistungsberechtigten zeigten in einer Befragung Interesse an weiteren Videoberatungen. Aus dem Notangebot wird deshalb voraussichtlich eine Institution. Und so sei es laut Wellmann jetzt an der Zeit, sich über grundsätzliche Dinge Gedanken zu machen – und das seien neben dem Datenschutz auch die Finanzen.
Videokonferenzen werden im Alltag wichtiger.
Längst nicht alle Leistungsberechtigten haben zu Hause unbeschränkt Internetzugang, stattdessen nutzen sie Prepaidhandys mit begrenztem Datenvolumen. Auch deshalb lehnten einige wohl das Angebot zum Videotelefonat ab. Die bis zu eine Stunde langen Gespräche sind für sie teuer. Wellmann sucht auch hier nach pragmatischen Lösungen – etwa Guthaben, gesponsert vom Jobcenter.
Diese Leistung kann eine Investition in die berufliche Zukunft sein: Mit Videokonferenzen dürfte es für viele auch außerhalb des Jobcenters weitergehen. Denn manche Unternehmen entdeckten nun das Vorstellungsgespräch per Video. Die Videotelefonate mit dem Jobcenter waren deshalb für manche wie ein Übungslauf für die nächste Bewerbung. Sie konnten sich vertraut machen mit dieser Stilform – kaum einer hatte wohl jemals zuvor ein offizielles Gespräch auf diese Art geführt. Für einige, sagt André Johannes, sei es gar ein persönliches Highlight gewesen: „Manche Leistungsberechtigte pflegen generell wenige soziale Kontakte. Die haben sich besonders gefreut über das Format Video.“